Karsten F. Kröncke
Zum Verständnis für den Prediger empfehle ich die Auslegungen von Walther Zimmerli und Wolfgang Piechota. Zunächst jene von Walther Zimmerli, die ich nachfolgend auszugsweise zitiere …
Prediger Salomon, 3. 1-15:
Alles hat seine Zeit.
nach Walther Zimmerli in : Das Alte Testament Deutsch, Neues Göttinger Bildungswerk, ATD/1, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen, 1980, Seite 162-169
»… Die Verse enthalten den kunstvollen Aufriß von sieben Antithesenpaaren. Sie sind eine Reihe von Wahrnehmungen aus dem Bereich der Welt des Lebens.
Menschen hatten seit Alters her beobachtet, daß nicht jedes Ding zu jeder Zeit angebracht ist und darum auch nicht zu jeder Zeit Erfolg bringt. Dazu gehört z. B. das unangebrachte Lachen des Toren, während es zur rechten Zeit durchaus auch ein angebrachtes, gewinneintragendes Lachen gibt. Oder daß das rechte Worte zur rechten Zeit fallen muß, damit es als schön empfunden wird.
Über die Schulweisheit hinaus erfahren wir im Prediger eine ganz andere Beleuchtung der Zeit.
Geborenwerden und Sterben – darin sind die Zeitpunkte genannt, die allem menschlichen Planen schlechterdings entzogen sind. Den Zeitpunkt seiner Geburt bestimmt keiner selber. Und im Tod, in der Unausweichlichkeit dieses Geschehens für einen jeden einzelnen, liegt das zu seiner Zeit Verhängte.
Dieser dem Menschen unverfügbaren Zeit stehen scheinbar die ihm zur Verfügung stehenden Zeiten daneben.
Dabei ist das Pflanzen und Ernten eine uralte bäuerliche Weisheit, eine von Gott selber dem Bauern gezeigte Kunde. Prediger sagt nun, daß auch über dem Tun des Bauern, der weder das Wetter noch seine eigene Gesundheit in Händen hat, die Fremdverfügung in Kraft steht.
Aus den sachlich ohne weiteres verständlichen Paaren betrachten wir „Zeit zu reden – Zeit zu schweigen“ etwas näher. Es gibt bekanntlich einen Rhythmus von Rede und Ruhe. Odysseus vor Alkinos erwähnt ihn: „Reden hat seine Stunde und seine Stunde der Schlummer“ (Od. 11,379). Das Wissen um die Grenze menschlicher Sprache scheint uralt zu sein. In der Begrenzung liegt verhängter, fremdbestimmter Vollzug.
Die Unfreiheit des Menschen selbst in seinen innerstens Regungen beschreiben auch die Verse vom Lieben und Hassen. Mit dem Abschluß der Reihe in der Nebeneinanderstellung von Krieg und Frieden, den großen Verhängnissen derGeschichte, ist Prediger wieder bei Geschehnissen, deren Unverfügbarkeit zumal dem Menschen in bewegter Zeit ganz unmittelbar als Not aufliegt.
Menschliches Tun bewegt sich immer so selbstverständlich sicher und steht doch täglich unter der Drohung der fallenden Zeit. Prediger zeigt nicht auf die Vergänglichkeit menschlichen Tuns, auch nicht auf den ständigen Wechsel. Er zeigt auf die Verwundbarkeit. Jäh brechen Gutes und Frohes oder aber Kummer, Leid und Sorgen hervor, das ganz so seine verordnete Zeit hat und zu dessen Verordnung der Mensch nichts zu sagen hat.
Die Weisheit liegt darin, daß der Mensch in allen gegensätzlichen Lagen seines Lebens seine »Zeit« – und diese ist nie nur leerer Ablauf, sondern in jedem Falle das mit bestimmten Widerfahrnis Erfüllte – empfängt und niemals über sie verfügt.
Im Prediger könnte die eigentümliche Eingrenzung herabmindernd wirken, tatsächlich jedoch weist sie auf die Begrenzung der menschlichen Erfassung des Göttlichen hin.
Der Mensch begegnet Gott im Rätsel der fallenden Zeiten, deren sinnvollen Zusammenhang er nicht zu ermessen vermag.
Gott hat dem Menschen die leidige Mühe gegeben, »in Weisheit« über die Stunde hinaus zu fragen nach Vergangenheit und Zukunft. Der Mensch muß über seinen Augenblick hinaus fragen. Er muß nach dem Gesetz des Zeitablaufes und nach der Ordnung der Zeiten fragen.
Der Mensch steht in der Welt der fallenden Zeiten in allem, was er unternimmt. Sein Unternehmungsdrang ist groß. Aber nicht einmal sein Lieben und Hassen, sein Reden und Schweigen sind ihm in dieser Welt der fallenden Zeiten in die Hand gegeben, so wie der Tag des Geborenwerdens und der Tag des Sterbens nicht in seine Hand »gegeben« sind.
Hart neben Predigers Begrenzung zu Gott und zur Besonderung des Menschen steht die Not der menschlichen Begrenzung, die mit eben seiner besonderen Auszeichnung zusammenhängt.
Für den Menschen ist es das beste, in seiner Begrenzung, unter Anerkennung der Wirklichkeit der fallenden Zeiten die Freude anzunehmen, wo sie in den einzelnen Tag hineingegeben ist, und in ihr die Gabe Gottes anzuerkennen. Darin erschließt sich ihm die Erkenntnis über Welt und Gott. Gott allein verfügt wirklich über den weiten Zeitverlauf und gebietet über alle Stunden hinaus.
Gott setzt ohne alle Begrenzung durch die fallenden Stunden als der Herr aller fallenden Stunden die Dinge der Welt, so daß keiner etwas dazutun noch etwas davontun kann.
Predigers Wort kennzeichnet ganz objektiv die Unanrührbarkeit und ehernde Geprägtheit der göttlichen Weltordnung: Vor Gott liegt alles längst, bevor es geschehen, fest, Vergangenheit und Zukunft.
Angesichts einer dem Menschen verschlossenen Welt, deren Geheimnis, Ordnung und Regiment allein bei Gott liegt, möge Gottesfurcht hochkommen. Darin liegt der Erkenntnis Anfang.
Gottesfurcht ist hier nicht das Gehen auf erhellten Pfaden, auf denen, wer den gewiesenen Pfaden folgt, auch gewiß ist, alle Früchte und Ehren des Lebens zu ernten.
Gottesfurcht ist hier das Gehen unter einem geheimnisvoll verschlossenen Himmel, nie gesichert vor der Möglichkeit, daß aus ihm jäh ein Blitz hervorzuckt und den Wanderer trifft, auf Schritt und Tritt allein angewiesen auf die freie Beschenkung Gottes, auf Schritt und Tritt aber auch gerufen, bereitwillig das Rätsel und die Bedrängnis zu tragen, die Gott verhängen kann.
Eine lebensnahe, alltagsbezogene Auslegung findet Wolfgang Piechota in seiner Reihe „Wort zum Tag“, ausgestrahlt vom Rundfunksender S 2 (Südwestfunk 2). Wir zitieren ihn aus den Sendungen vom:
09.11.1992:
»Die Zeit wird betrachtet, die alles Geschehen beherrscht.
Geborenwerden und Sterben.
Das Lieben und das Lachen, Arbeit und Muße, Krieg und Frieden, Trauer und Jubel haben ihre genau bemessene Zeit, ihren Augenblick, an dem sie sein dürfen.
Wir weinen und klagen um einen Verstorbenen. Danach muß wieder Freude sein, sonst ertrinken wir in Depression.
Altes, baufälliges oder auch Denkmäler unserer Eitelkeit müssen dem Neuen weichen, wenn sie für überflüssig gehalten werden.
Alles hat Gott sehr schön gemacht. Ein volles Leben hat der Schöpfer dem Menschen in die Hände gelegt und ihm das Gespür der Ewigkeit ins Herz gepflanzt. Nur: Der kurzsichtige Mensch kann dies alles von Anfang bis Ende nicht überblicken.
Solange einer lebt, sieht er, wie schön die Welt sein kann. Dazu Predigers großes »Ja« zum Leben: »Iß und trink und trag‘ weiße Kleider, sei fröhlich mit deinen Lieben, genieße die Tage das Daseins.«
10.11.1992
»Wenn niemand uns ab und zu unsere Grenzen zeigte, wären wir bald grenzenlos unglücklich.
Unbegrenzte Lebensdauer, grenzenloses Vergnügen, unbeschränkte Freiheit, Wissen ohne Ende … das sind uralte Träume der Menschheit. Sehr bekömmlich wäre ihre Erfüllung nicht.
Was bringt uns der enorme Zuwachs an Information? Mir gefällt die Frage, denn meine Augen und Ohren sind übervoll. Ich höre den Nachrichtensprecher von einer Unfallserie im Nebel berichten und sehe den Film dazu:
die verbogene Leitplanke, ein Ortsschild, den Rettungswagen, Menschen, die ich nicht kenne, Blech und Trümmer, wahllos im Bruchteil einer Sekunde.
Noch mehr Wissen bringt keinen Gewinn. Die Masse der abrufbaren Informationen türmt sich zu einem Berg, wird zu einem nutzlosen Abfallhaufen.
Dreißig Kabelprogramme im Fernsehgerät; sieben Zeitungen jeden Morgen neu auf dem Ladentisch; Stapel von Prospektpapier wöchentlich in und um den Briefkasten!
Wenn mir das bewußt wird, seufze ich tief. Diese Klage ist so alt wie die Bibel. Predigers Buch beschreibt die Grenzen menschlichen Tuns und ist ein Beitrag zur Entsorgung unseres überladenen Lebens.
Damals schon sagte man den Schülern zum Ansporn: Wer was wissen will, muß sich Mühe geben!
Der Prediger dreht den Spieß um: Wer Wissen erwirbt, schafft sich Mühe! Wer nach Einsicht strebt, erntet Schmerz!
Gott hat den sterblichen Menschen deutliche Grenzen gesetzt. Wer alles im Höchstmaß will, sieht das Gegenteil: Kummer und Enttäuschung.
Die Wissenschaft macht aufregende Entdeckungen, aber diese werden zu tödlichen Technologien. Die Überdosis an Medizin bewirkt Unheil statt Heilung. Der Tod ist die Folge.
Wer hat Gewinn von seiner Weisheit, fragt der Prediger? Der Weise nicht mehr als der Dummkopf, denn ein Schicksal trifft beide: Sie sind sterblich und retten nichts über die Grenze, weder den Sack voll Gold noch die wertvolle Bibliothek.
Lähmen könnte ein solches Klagen!
Der Prediger hat ein vortreffliches Gegenmittel: Seid euch, sagt er mit Festigkeit, der Grenzen eures Daseins bewußt und lebt es eben darum mit ganzem, freudigem Herzen!
Unser Dasein, Gottes Schöpfung ist nicht auszuschöpfen. Von so viel Leben entdecken wir nur kleine Ausschnitte! Also bleibt nur das beherzte Leben im begrenzten Hier und Jetzt!
Ein schönes Bild steckt im Rat: »Wirf dein Brot ins Wasser – nach vielen Tagen kannst du es wiederfinden!«
Ein Plädoyer für das scheinbar Unsinnige? Wer verschenkt denn schon gern das Brot, den Lohn seiner Arbeit?
Wer es riskiert, gewinnt unverhofftes Glück, meint der Prediger. Sich freuen, wenn etwas zurückkommt und nicht verzweifeln, wenn alle Mühen vergeblich scheinen, das ist sein besonderes Rezept. Gelassenheit heißt sein Geheimnis.
Die Grenzen unserer Zeit erfahren wir allenthalben. Inbegriffen ist ein fröhliches »Ja« zu allen ihren Fragwürdigkeiten.«
11.11.1992
»Kraft zum Leben haben wir nur, wenn manche Lebensfragen unbeantwortet bleiben. Das zeigt folgende Szene:
Arzt und Priester stehen am Bett eines sterbenden Kindes. Mit kühlen Kompressen versucht der Arzt, das Leid zu lindern. Der Priester murmelt Sterbegebete. Beide bewegt die eine Frage: Warum? Eine Antwort haben sie nicht. Das Kind ist unschuldig, doch sein Sterben erscheint wie eine absurde Bestrafung.
Der Arzt sagt: »Man muß trotzdem kämpfen!« Zustimmend nickt der Priester. Die Szene erinnert an einen alten griechischen Mythos, die Erzählung von Sisyphos. Das ist der Mensch, der einen Felsbrocken unendlich oft bergauf rollen muß. Er schafft es jeweils bis zum Gipfel, dann rollt der Stein zurück. Der Mensch steigt hinab und beginnt sein absurdes Werk von vorn.
Albert Camus, der Erzähler beider Szenen, vermutet, daß Sisyphos ein glücklicher Mensch ist. Es gelingt ihm, die endlose Mühe zu anzunehmen. »So ist mein Dasein«, kann er sagen, »ihm stimme ich zu, den Segen der Götter brauche ich nicht.«
Ähnlich der Arzt am Krankenbett: »So hilflos ist mein Tun, so stark der Tod!« Aber meine Handgriffe sind notwendig.
Priester und Arzt haben den gemeinsamen Nenner gefunden: Das »Ja« zum Dasein mit all seiner Fragwürdigkeit. Bei solchen Menschen spürt man oft eine merkwürdig starke Kraft. Entschlossen sieht Camus den Sysiphos bergauf arbeiten. Bis zur Erschöpfung stehen Ärzte, Pfleger, Seelsorger, Angehörige gegen das Leid ohne seinen Sinn zu benennen.
Die Klage wirkt lähmend und kräftezehrend. Das »Ja« zum leidvollen Leben gibt Kraft.
Wenig gelesen wird das Buch Prediger im Alten Testament, das ähnliche Töne anschlägt. Dieser Prediger hat keine Rezepte zur Abschaffung des Leidens. Er listet redlich alle Mühen des Daseins auf. Seine Gedanken kreisen tief und tiefer, wie man einen Brunnen bohrt. Das Leben aller Generationen, sagt er, endet im Tod.
Augen können sich nicht sattsehen. Ohren werden vom Hören nicht voll: Das sind die unersättlichen Menschen, die nach ständig Neuem streben und doch den altgewohnten Tod sterben.
Alles unter der Sonne ist »Haschen nach Wind«. Das gilt für die Werke der Mächtigen, für Wirtschaftsplanung und Städtebau. Es betrifft die Vergnügungen der Reichen, die Kunst und den Genuß. Es belastet die Hände der Arbeiter, die bauen und gestalten.
So lesen wir, übrigens ziemlich genau in der Mitte der Bibel, diese ernüchternde Bilanz aus dem alten Israel. Nur, daß dies keine hilflose Klage ist, sondern ein selbstbewußtes Abschreiten der Grenze. Es mündet in den Rat:
»… Am Morgen säe deine Saat aus und laß bis zum Abend deine Hand nicht ruhen, denn du weißt nicht, was gelingen wird. …«
Und das wird begründet:
Die Sonne wird genannt, die den Augen gut tut;
der Wein kommt zur Sprache, der das Herz aufmuntert.
Das Brot soll schmecken und die Kleider dürfen glänzen.
»… Alles, was deine Hand zu tun findet, das tue mit vollem Einsatz! …«
Hier spricht kein gottloser Verächter des Lebens. Hier predigt einer, der durch die quälenden Fragen hindurchgegangen ist und alles, was er nicht lösen kann in sein Inneres aufgenommen hat.
Ich lese sein Buch mit Herzklopfen; es ist mir ein Lieblingsbuch geworden.«
Unsere Auslegung nach astrologischen Gesichtspunkten bestätigt Predigers Worte von den Zeiten. Astrologie beschreibt die Ordnung, die einem Silberfaden gleich unser Leben durchzieht.
So läßt sich verstehen, dass der eine Mensch in seinen zwanziger Lebensjahren, der andere in seinen siebziger Lebensjahren die größte berufliche Entfaltung findet.
Und noch etwas beschreibt Astrologie sehr genau: Das Miteinander und das darin eine bestimmte Qualität von Mitmenschlichkeit liegt. Ja, es geht kein Mensch über die Erde, den Gott nicht liebt. Immer ist derjenige unser Nächster, der uns gegenüber steht. Nur der andere kann mich bei meinem Namen rufen, mich streicheln, mir einen Kuss geben. Nur wenn der andere mir zuhört, kann ich meine Gedanken loswerden – und nur, wenn ich dem anderen zuhöre, kann dieser seine Gedanken loswerden.
Ich brauche den anderen und der andere braucht mich. Wir sind voneinander abhängig. Wir brauchen uns gegenseitig. Mit diesem Austausch geschieht etwas. Dort liegt das Ereignis, das große Geheimnis des Lebens.
So ist verständlich, dass tatsächlich alles seine Zeit hat. Uns wird das deutlich, wenn wir mal auf den anderen warten müssen, obwohl wir nach ihm verlangen und meinen, unser Anliegen vertrüge keinen Aufschub. Aber der andere, der für uns rechte Ansprechpartner, steht uns jetzt nicht zur Verfügung (weil er verreist ist, andere Interessen verfolgt oder einfach keine Lust hat, auf meine Bedürfnisse einzugehen). Dann muß ich warten, warten bis die Zeit für den anderen gekommen ist – so wie auch dieser auf mich warten muss, bis meine Zeit für ihn gekommen ist. Es hat eben »… alles seine Zeit …«.